Haut man ein Atom in Stücke, entsteht dann eine Atomruine? Ahmt man ein Gewaltverbrechen nach, begeht man dann eine Raubkopie? Viele Wörter, die heute in Politik und Medien eingesetzt werden, stehen für eine andere als die wörtliche Bedeutung. Jedes Jahr werden daher die „Unworte des Jahres“ gekürt, die meist einen schwerwiegenden Sachverhalt verharmlosend umschreiben.
Die Autoren Biermann und Haase listen in ihrem Buch „Sprachlügen“ viele solcher Worte in der Art eines Lexikons auf. Die einzelnen Artikel sind alphabetisch geordnet und umfassen durchschnittlich je eine Taschenbuchseite. Zu jedem Wort gibt es eine sprachliche Analyse, die auch das verwendete Stilmittel nennt. Die wörtliche Bedeutung einer Vokabel wird der Intention der Verwendung gegenübergestellt. Je nach gewähltem rhetorischen Mittel ist die ehrliche Aussage negativer oder extremer, bisweilen sogar das Gegenteil der analysierten Auslegung.
Unter dem Einfluss der Lektüre achte ich vor allem bei den Nachrichtensendungen und Tageszeitungen auf das Ausmaß des verbalen Missbrauchs. Sowohl Politiker als auch Journalisten verwenden die beschriebenen Stilmittel intensiv. Die Auflistung von über 200 Begriffen in dem Buch ist keineswegs vollständig. Das Werk ist gerade umfangreich genug, das Prinzip aufzuzeigen und die Sensibilität für solche Unworte zu wecken.
Mit derart geschärftem Blick vermute ich, dass auch die Auflistung der Autoren ein Ziel und eine Intention verfolgt. Die Auswahl der Begriffe lässt darauf schließen, dass die Autoren gern in Opposition zur jeweiligen Regierung gehen, dass sie politisch links der Mitte stehen, die Macht der Wirtschaft kritisieren, Pazifisten sind, die Nutzung der Kernenergie ablehnen, den Überwachungsstaat anprangern und die Freiheit des Einzelnen über die Sicherheit stellen. Die scheinbar neutrale Betrachtung ist auch in diesem Fall nie unabhängig, denn sie gründet auf der Lebenserfahrung der Urheber. Ein Anhänger der AfD könnte eine sprachwissenschaftlich ebenso gelungene Auflistung erstellen, die Wahl der Artikel wäre mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht deckungsgleich.
Vier Jahre nach der Veröffentlichung hat das Buch kaum etwas von seiner Aktualität eingebüßt, die Grundaussagen sind beinahe zeitlos gültig. Die Lektüre zeigt bei mir Wirkung, denn ich achte vermehrt auf die Formulierungen insbesondere bei offiziellen Anlässen – nicht nur in der Politik. Es entlarvt neben der Sprachmanipulation auch das unbedachte Nachplappern der kreativen Wortneuschöpfungen.
Über die Lektüre hinaus empfehle ich den Blog der Autoren, neusprech.org. Ebenfalls empfehlenswert ist der Roman „1984“ von George Orwell, dessen deutscher Übersetzung das Wort Neusprech entlehnt wurde. Weiterführende Literatur ist im Nachwort des Buches angegeben.
Fazit: Im Taschenbuch „Sprachlügen“ findet sich eine lexikonartig aufgebaute Zusammenstellung von Wortschöpfungen, die Einzug in den Sprachgebrauch gefunden haben. Häufig stehen die neu zusammengesetzten Begriffe für einen Inhalt, der vom wörtlichen Verständnis deutlich abweicht. Ich empfehle das Buch, weil es die Sinne schärft und den bewussten oder unbedachten Gebrauch dieser Unworte erkennen hilft. Dabei kann der geneigte Leser feststellen, dass die Autoren letztlich auch keine neutralen Beobachter sind. Insgesamt „gut“.
Titel | Sprachlügen Unworte und Neusprech von »Atomruine« bis »zeitnah« |
Autoren | Kai Biermann Martin Haase |
Erschienen | 2013 bei Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main |
Auflage | 1. Auflage 2013 |
Format | Taschenbuch, 240 Seiten |
ISBN | 978-3-596-19497-1 |