„Mach‘ doch einfach …“, sagt mein Schwager. Er fordert mich zum Handeln auf, obwohl ich mir meiner Fähigkeiten nicht sicher bin. Das ist ein großer Vertrauensvorschuss, denn schließlich helfe ich ihm beim Bau seines Hauses. Doch „einfach“ probieren fällt mir sehr schwer. Aber geht nicht ein Teil meines Lebens verloren, wenn ich immer nur mache, was ich bereits kann?
Anselm Grün ist 73 Jahre alt, Benediktiner-Mönch, Philosoph, Theologe und ehemaliger Wirtschaftsleiter seiner Abtei. Er beschreibt aus seiner Erfahrung als Seelsorger, dass vor allem junge Leute mit dem ewigen Warten kämpfen. Doch nicht nur die Jugend, sondern Menschen aus jedem Alter kennen diese langweilige Routine.
Inhalt
Bereits zum Beginn der Berufswahl steht das Zögern. Jugendliche haben so viele Möglichkeiten, dass die Entscheidung schwerfällt. Zudem beobachten sie bei der Generation der Eltern, dass die Balance zwischen Arbeit und Leben nicht mehr stimmt. Das möchten sie von vornherein verhindern. Etliche Berufe scheinen nicht geeignet zu sein, mit dem angeeigneten Wissen und Können die Welt zu verbessern.
Auch gestandene Erwachsene kennen das Gefühl, das sich häufig zur Lebensmitte einstellt. In der sogenannten „midlife-crisis“ blicken sie auf ihr bisheriges Leben zurück und sehen nur die Aspekte, die nicht dazu geeignet waren, einen bleibenden Eindruck in dieser Welt zu hinterlassen. Dabei spielt es kaum eine Rolle, welchen Beruf sie ausüben, welchen Status oder Familienstand sie erreicht haben.
Tragischer ist es, wenn Menschen im hohen Alter auf ihr Leben zurückblicken und bereuen, was sie alles nicht getan haben. Das kann schon frustrierend sein. Es scheint ein häufiges Phänomen zu sein, dass man den tatsächlich vollbrachten Dingen einen geringeren Wert zumisst als den unerreichten.
Viele Menschen nutzen Drogen oder andere Suchtmittel, um sich in dieser Sinnkrise abzulenken. Verdrängen statt Verarbeiten, das ist die Devise. Eine Alternative zur Bewältigung solcher Lebenskrisen sieht der Autor in der christlichen Religion.
Hoffnung lässt die konkreten Bilder hinter sich
Anselm Grün
Im christlichen Glauben ist die wichtigste Tugend die Hoffnung. Darin sieht auch Anselm Grün den Ausweg aus den ungelösten Lebenssituationen. Hoffnung ist auf die Zukunft gerichtet, das geht von jeder Gegenwart aus. Hoffnung vertraut auf das Bauchgefühl. Hoffnung unterscheidet sich von Träumen dadurch, dass das Ergebnis offen bleibt. Hoffnung ermöglicht einen Neuanfang aus dem Scheitern. Das beste Beispiel dafür ist Jesus. Als er hingerichtet wurde, haben die Jünger ihre Träume begraben, in denen ein starker Führer die römischen Besatzer vertreibt. In der Auferstehung aber erleben sie, dass aus dem scheinbaren Scheitern neues Leben entsteht. Hoffnung erwartet das Beste für andere, nicht zuerst für mich. Und am Ende gibt es die Hoffnung auf eine Zukunft nach dem Tod.
Bewertung
Was kann ein katholischer Mönch im Rentenalter schon von den Problemen im Alltag des 21. Jahrhunderts wissen – so mag man oberflächlich denken. Doch die Ausführungen haben mich positiv überrascht. Lebensnah und überhaupt nicht abgehoben beschreibt Anselm Grün die Situation, die ich auch in meinem Leben und in meiner Umgebung wahrnehme. Er ist ein sehr exakter Beobachter und kann vermutlich gut zuhören.
Seine Tipps am Ende des Buches sind nicht abgehoben, sondern wirklichkeitsnah. Ich merke, dass der Mann mit beiden Beinen im Leben steht. Bei den Herleitungen fällt mir auf, dass die Erläuterungen an einigen Stellen sehr theoretisch klingen. Sie basieren auf philosophischen Texten, die schwer verständlich sind. Das ist in meinen Augen das einzige Manko. Die Aussagen im Buch sind biblisch fundiert, aber nicht fundamentalistisch. Hier wird der christliche Glaube praktisch, ganz ohne erhobenen Zeigefinger.
Persönliche Anmerkung
Ich habe dieses Buch gelesen, weil ich mich gerade in einer Situation sehe, in der ich scheinbar nicht vorankomme. Danke an Anselm Grün, dass er mir Mut gemacht hat, dass die Vergangenheit nicht so negativ und die Zukunft nicht so aussichtslos sind, wie sie scheinen. Die Umsetzung in der Gegenwart muss ich noch erlernen und freue mich über die Anstöße aus dem letzten Kapitel.
Fazit
Anselm Grün beschreibt in seinem Buch „Versäume nicht dein Leben“ die Situation, in der heute Menschen in jedem Alter stehen: Sie suchen nach einem erfüllenden Leben und nach einer Möglichkeit, einen bleibenden Eindruck auf diese Welt zu hinterlassen. Kurz gesagt, es geht um den „Sinn des Lebens“. Aufbau und Argumentation gefallen mir sehr gut, an wenigen Stellen zu theoretisch. Besonders wertvoll ist das abschließende Kapitel, in dem der Autor Hilfen für Betroffene anbietet. Dabei gibt es keine Patentrezepte, sondern ein gutes Gerüst, was ich individuell ausfüllen kann.