Manche Menschen suchen ihr Leben lang nach einer Vaterfigur, nach einem großen Bruder / einer großen Schwester oder einfach einem passenden Mentor. Wo findet man in dieser kaputten Welt noch echte Vorbilder?
Es mag mit meiner Persönlichkeit und meinen Charaktereigenschaften zusammenhängen: Obwohl ich in einer wunderbaren Familie aufgewachsen bin, suche ich manchmal nach einem großen Bruder. Als Ältester von fünf Kindern war mir dieses Privileg nicht vergönnt. Doch nicht nur dort: An der Arbeit hätte ich gerne einen Mentor, der mich in die Materie einführt. In der Kirche/Gemeinde wünsche ich mir einen väterlichen Freund, der mir hilft, wenn meine Erwartungen nicht erfüllt werden.
Das ist irgendwie paradox, dass ich immer wieder in Leitungsaufgaben lande und doch so oft das Bedürfnis habe, mich selbst leiten zu lassen.
Der Preis guter Leiterschaft
Ja, es gibt sie, die „geborenen Leiter“. Doch nach meinen Beobachtungen sind das vielleicht 5%, die übrigen haben ihre Rolle erlernt oder sind einfach fehl am Platz. Ich kenne ein paar Menschen, die auf mich den Eindruck eines geborenen Leiters gemacht haben. Doch bei näherer Betrachtung haben alle diese Personen eines gemeinsam: Sie haben in ihrer Biographie schwere Zeiten hinter sich. Sie sind durch Situationen gegangen, die man seinem ärgsten Feind nicht wünscht. Da ist ein junger Mann, der sehr früh seinen Vater verloren hat und selbst Verantwortung übernehmen musste. Ein anderer hat einen jahrelangen Ehekrieg gefolgt von einer zerstörerischen Scheidung hinter sich. Wieder ein anderer hat eine lebensbedrohliche Krankheit überwunden und war in jungen Jahren bereits an einem Punkt, wo sein Leben am seidenen Faden hing. Nein, ganz ehrlich, mit diesen Menschen möchte ich nicht tauschen.
Kann man Leiterschaft lernen?
In einer christlichen Leiterschaftsschulung hat ein Missionar gesagt:
You are not a born leader. — — — yet
Loren Cunningham
Du bist kein geborener Leiter — — — noch nicht. Leiterschaft ist also erlernbar. So zumindest die Überzeugung dieses geistlichen Leiters, der vielen jungen Menschen zu einem großen Vorbild geworden ist: Die Methode, die er beschreibt, ist das „Train the Trainer“ Konzept, also die Ausbildung von Multiplikatoren.
Es gilt, diejenigen Menschen in einer Gruppe zu finden, die bereit sind, sich zu Ausbildern schulen zu lassen. Dabei darf es nicht in erster Linie darum gehen, neues Wissen zu vermitteln. Viel wichtiger sind die Kompetenzen, die in der sozialen, pädagogischen oder auch seelsorgerlichen Ecke angesiedelt sind. Leiterschaft Lernen beginnt meist mit Veränderungen an mir selbst. Und ich habe erlebt, dass man das tatsächlich lernen kann. Dafür ist es aber wichtig, das richtige Vorbild zu finden. Doch jetzt bin ich wieder bei meinem Problem vom Anfang: Wo finde ich das passende Vorbild?
Blickwechsel
Irgendwann hat es bei mir „klick“ gemacht, ich habe verstanden, wie ich das Problem aus einer ganz anderen Perspektive betrachten kann. Auslöser dafür war ein Lied der Band PUR zu einem Text von Reinhard Mey: „Der Mann am Fenster.“ Darin berichtet der Erzähler, dass er gerne nächtelang arbeitet und dabei immer den älteren Herrn am Fenster im gegenüberliegenden Haus beobachtet. Eines Tages verstirbt dieser und später ziehen junge Menschen in die leerstehende Wohnung ein. Die Blicke treffen sich und dann bemerkt der Schreiber:
Und langsam werde ich mir klar darüber,
dass ich für sie ab heut‘ der Mann am Fenster bin.
Reinhard Mey
Bis heute bekomme ich Gänsehaut, wenn ich dieses Lied höre oder den Text lese, denn er hat mir den Anstoß gegeben, meine Position zu ändern. Statt immer nach dem perfekten Mentor zu suchen, nach der Person, die mich in irgend einem Lebensthema voranbringen kann, biete ich meine Hilfe an. Schon lange gibt es Bereiche in meinem Leben, in denen ich echt etwas geleistet habe, in denen ich mich richtig gut auskenne und die ich spielend leicht anderen Menschen erklären kann. Es ist an der Zeit, dass ich für andere, meist für die jüngere Generation, zu dem Mentor werde, den ich selbst nie hatte.
Ich bin so überaus reich gesegnet mit besonderen Gaben und auch mit erlernten Fähigkeiten, dass es eine krasse Verschwendung wäre, diese nicht weiterzugeben. Zugegeben, diese Einsicht fällt mir schwer, denn in meiner christlichen Prägung habe ich gelernt, dass man bescheiden und zurückhaltend sein soll.
Es gibt auch immer wieder die Momente, wo ich in der Versuchung stehe, mein Wissen für mich zu behalten, denn das ist ja scheinbar das, was mich von anderen Menschen unterscheidet, wieso sollte ich das hergeben? Doch das ist grundverkehrt. Stolz verhindert die Bildung und Weiterbildung der nächsten Generation kompetenter und sozial engagierter Vorbilder und Mentoren. Außerdem verhindert er eine gute und sinnvolle Zusammenarbeit – das kann ich gerade im Beruf bestätigen, wenn ich mit Menschen konfrontiert werde, die eine Art „Herrschaftswissen“ aufgebaut haben und ihre Kenntnisse nicht mit anderen teilen möchten. Interessanterweise hat diese Haltung noch keinen vor dem Rauswurf bewahrt, oft sogar eher dazu beigetragen.
Das Teilen der eigenen Erfahrungen ist so wichtig, dass es in viele Lebensbereichen als feste Regel etabliert ist. Besonders beeindruckt haben mich dabei die zwölf Schritte der Anonymen Alkoholiker. Wer dort von der Sucht loskommen möchte, muss alle zwölf Schritte gehen. Erst wer auch den zwölften Schritt erfolgreich absolviert hat, hat eine Chance, dauerhaft vom Alkoholismus geheilt zu werden. Dieser zwölfte Schritt lautet:
Nachdem wir durch diese Schritte ein spirituelles Erwachen erlebt hatten, versuchten wir, diese Botschaft an Alkoholiker weiterzugeben und unser tägliches Leben nach diesen Grundsätzen auszurichten
Anonyme Alkoholiker
Das Weitergeben des Gelernten ist also der entscheidende Schritt der Reife. Nicht wer etwas weiß oder kann, ist der Held, sondern der, der sein Wissen weitergibt.
Fazit
Ich will nicht länger nach den Menschen suchen, die mir in meinem Leben weiterhelfen. Ich will nicht eigne Perfektion auf Kosten und aus dem Wissen anderer erreichen. Vielmehr will ich aktiv mein Wissen und Können einsetzen, um anderen Menschen Gutes zu tun und sie dazu befähigen, selbst in dieser Weise zu handeln. Das ist eine lebenslange Aufgabe, die man nie vollenden kann. Doch jeder erfolgreiche Zwischenschritt erfüllt mich mit großer Freude und Dankbarkeit.
Nachwort: Dieser Bericht ist zutiefst in meinem eigenen Erleben verankert. Deshalb ist er meist in der männlichen Form formuliert. Im Grundsatz gelten die Erkenntnisse für alle Menschen, egal welches Geschlecht, Religion oder Nationalität sie haben. Der Inhalt ist auch übertragbar auf andere Rollen, nach denen Du Dich sehnst.
Bildnachweis: „Mentor“ Designer: „mcmurryjulie“. Freigegeben unter Pixabay Licence.